Kuhglockenstudie: Viel Lärm um wenig Krach

Im Herbst 2014 gab es viel Lärm um eine Studie, die beweisen wollte, dass Kuhglocken «laut wie Presslufthämmer» seien. In der inzwischen publizierten Studie tönt vieles deutlich leiser.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Im Herbst 2014 gab es viel Lärm um eine Studie, die beweisen wollte, dass Kuhglocken «laut wie Presslufthämmer» seien und das Wohl der Kühe massiv beeinträchtigten. In der inzwischen publizierten Studie tönt vieles deutlich leiser.

Text: Eveline Dudda, Bild aus PLOS

Hätte die Schweiz ein Wappentier, es wäre sicher eine Kuh. Kühe sind hierzulande so wichtig, dass sich hin und wieder sogar das Parlament mit ihrem Wohl beschäftigen muss. Vor knapp zwei Jahren geriet das Blut der Kuhschweizer besonders stark in Wallung. Damals berichteten die Medien über «umfangreiche Versuchsreihen mit über 100 Kühen und 25 Ziegen», welche gezeigt hätten, dass Kuhglocken «laut wie Presslufthämmer» seien und Kühe mit Glocken «langfristig ein, zwei Stunden täglich weniger fressen». Obwohl – oder eben gerade weil – die genauen Studienergebnisse noch gar nicht vorlagen, wurde das Thema medial ausgeschlachtet. Die Eidgenössische Technische Hochschule ETH hängte der Lärmforscherin Edna Hillmann zwar kurz darauf einen Maulkorb um. Doch da war es bereits zu spät: Die Kuhglockenstudie hatte im sozialen Netzwerk bereits wie ein Presslufthammer eingeschlagen. Radikalveganerin Nancy Holten vom Vorstand der IG Stiller, einer Organisation, die gegen Kirchenglocken anrennt, richtete bei Facebook umgehend eine Gruppe «Kuhglocken out» ein, welche Ende Mai 2016 rund 4900 Likes hatte. Bäuerliche Vertreter reagierten mit Facebookgruppen wie «Pro Kuhglocken» (21’400 Likes) und «Kuhglocken unsere Tradition» (21’700 Likes). Es folgten «Kuhglocken Verein Etzikon», «Kuhglocken-Freunde für glückliche Kühe auf der Wiese», «Pro Kuhglocken, Hahnen-Schrei und dgl.» und eine parlamentarische Anfrage, ob die ETH nichts Gescheiteres zu tun habe, als solche Studien durchzuführen. Die wenig informative Antwort des Bundesrats verhallte ungehört. Als die Studienergebnisse Anfang 2016 im Journal PLOS ONE still und leise veröffentlicht wurden, interessierte sich niemand mehr dafür.

Der Hintergrund

Die «umfangreichen Versuchsreihen mit über 100 Kühen und 25 Ziegen» entpuppten sich bei genauer Betrachtung als eine einzige Studie mit total 19 Kühen. Bei den anderen Versuchen ging es zwar auch darum, wie Tiere auf Lärm reagieren, das hatte aber nichts mit Glocken zu tun. Bei diesen Lärmversuchen fand man vor allem heraus, dass starke Gewöhnungseffekte auftreten. Flugzeuglärm im Wartehof vor dem Melkstand? War für Kühe kein Problem, wenn er häufig vorkam. Laute Melkanlage? Führte nur dann zu reduzierter Milchleistung, wenn der Krach mit Vibrationen gekoppelt war. Unbekannte Geräusche im Laufgang? Am ersten Tag reagierten Rinder darauf mit erhöhtem Puls, doch spätestens nach fünf Tagen waren keine Fluchttendenzen mehr feststellbar. Ähnliche Effekte gab es bei Ziegen, Schweinen, Pferden. Hillmann erwartete deshalb, «dass sich die Kühe bis zum dritten Messtag an die Glocken gewöhnt haben». Deshalb wurden die Kühe nur jeweils drei Tage lang mit Glocken ausgerüstet.

Die Glocken

Diese Glocken hatten es in sich: Es handelte sich um 5,5 kg schwere Messingglocken, die laut Hillmann von «Praxisbetrieben zur Verfügung gestellt wurden». Das erstaunt, weil Messingglocken fürs Weiden alles andere als ideal sind. Solche Glocken bekommen schnell Risse, wenn sie an einen Brunnentrog oder ein anderes Hindernis anstossen. Der Schallpegel der Glocken betrug gemäss Forschungsbericht 90 bis 113 Dezibel, in einer Distanz von 20 Zentimetern gemessen. Das ist so viel wie eine Nachtigall, die in der Grossstadt gegen Lärm ansingt. Nein, das ist jetzt kein Witz, sondern das Max Planck Institut für Ornithologie hat tatsächlich 90 dB Vogelgesang gemessen. Ein ähnlicher Schallpegel wird häufig beim Musikhören über Kopfhörer erreicht. Allerdings erregt der Vergleich mit einer Nachtigall oder dem Kopfhörer keine mediale Aufmerksamkeit. Genau das schien aber gefragt zu sein. Hillmann erklärt den Vergleich so: «Zum besseren Verständnis von Dezibel-Angaben werden bekannte Geräusche verwendet. Der Begriff Presslufthammer entstammt der umgangssprachlichen Verdeutlichung der Beschreibung des Schallpegels der Glocken von 90 bis 113 Dezibel.» Sie gibt dann aber wenigstens zu, dass sich die Lautstärke der Glocken vom Presslufthammer in vielen akustischen Eigenschaften wie Frequenz, zeitlichem Muster, Einwirkungsdauer etc. unterscheidet. Und dass beim Presslufthammer Vibrationen auftreten, die über den Boden anders übertragen werden als der Klang der Glocke zum Ohr der Glockenträgerin.

Die Glocken klangen unterschiedlich: Hoch und schrill die einen, etwas dumpfer die anderen. Die Frequenz betrug 532 Hz bis 2,8 kHz, Hillmann findet das trotz der grossen Bandbreite vergleichbar. Welche Kuh welche Glocke erhielt, wurde dem Zufall überlassen und nicht erfasst. Jede Kuh bekam aber an den jeweils drei Messtagen immer dieselbe Glocke.

Die Studienanlage

Pro Untersuchungstag standen zwischen 2 und 5 Kühe unter Beobachtung. Die 19 Galtkühe der Rasse Brown-Swiss waren drei bis zehn Jahre alt und lieferten im Schnitt 8000 Kilo Milch im Jahr. Alle Kühe waren in der Jugend schon mal auf der Alp gewesen und hatten deshalb Glockenerfahrung. Vielleicht hat sie diese Erfahrung geprägt? Manche Kühe frassen nämlich mit Glocke mehr als ohne Glocke oder sie käuten in beglocktem Zustand länger wieder. Nach jeweils drei Tagen Glockentragen bekamen die Kühe ein paar Tage bis zwei Wochen «frei». Dann wurde ihnen drei Tage lang eine tonlose Glocke umgehängt, die ebenfalls 5,5 Kilo wog, deren Klöppel aber fixiert wurde. Nach einer weiteren Pause wurde das Verhalten der Kühe erneut über drei Tage, dieses Mal ohne Glocke, protokolliert. Während der Untersuchungszeit bekamen sie einen Gurt um den Bauch, ein Nasenhalfter und einen Schrittzähler am Hinterfuss angelegt. Erfasst wurden Herzschlag, Kautätigkeit, Anzahl Schritte, Liegedauer, Abstand zu Artgenossinnen, Wiederkautätigkeit, Fressdauer und vieles mehr. Weil die Technik öfter versagte, lagen am Ende des Sommerhalbjahres den Forscherinnen von gerade mal 34 Kuhtagen verwertbare Daten vor. Das waren dann die «umfangreichen Versuchsreihen».

Die Erwartungen

Auch ohne Forschung steht fest: In der Natur sind keine Glocken vorgesehen. Wenn Kühe wählen könnten, würden sie vermutlich frei und unbeschwert grasen wollen. Die Forscherinnen Julia Johns, Antonia Patt und Edna Hillmann gingen davon aus, dass Kühe mit Glocken den Glockenklang zu vermeiden versuchen, indem sie den Kopf weniger oft bewegen, weniger lang wiederkäuen und weniger lang fressen. Hillmann sieht es als erwiesen an, dass «Kühe mit Glocken circa 2,5 Stunden weniger lang wiederkäuen, dass die Fressdauer durch die stille Glocke um circa 2 Stunden, und durch die funktionale um rund 40 Minuten reduziert wurde». Wie beim Vergleich mit dem Presslufthammer ist das zwar nicht falsch, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Einigen Kühen schmeckt das Futter mit Glocke nämlich besser. Die längste Fressdauer von allen Versuchstieren hatten ausgerechnet Kühe mit Glocken (Biber, Darling, Zulli, zwischen 900 und 1000 Minuten pro Tag). «Piwa» frass mit Glocke sogar dreimal so lange wie ohne Glocke! Die Fressdauer ohne Glocke bewegte sich eher im Mittelfeld.
Neben dem Fressen ist auch das Liegen für Kühe wichtig. Eine verkürzte Liegedauer wird als Indikator für vermindertes Tierwohl angesehen. Bei der Liegedauer gab es beträchtliche Unterschiede: Kuh «Atela» lag mit Glocke fast drei Stunden länger herum als ohne Glocke (640 Minuten statt 407 Minuten), während Kuh «Biber» genau wie «Darling» zum Liegen eine geräuschlose Glocke bevorzugte (456 mit bzw. 602 Minuten ohne Glockenklang). Darling gehörte übrigens zu den wenigen Kühen, die über alle drei Tage dasselbe Verhaltensmuster zeigten. Die meisten Kühen waren dagegen sehr flexibel: Sie lagen bei gleicher Glockenkonstellation mal mehr, mal weniger lang herum. Die Liegedauer war das einzige Kriterium, bei dem sich das Verhalten der Kühe signifikant unterschied. Bei allen anderen untersuchten Kriterien wie Herzschlag, Wiederkautätigkeit, Kopfbewegungen und dergleichen mehr waren die Unterschiede nicht signifikant, sondern höchstens tendenziell. Auffällig war, dass bei neun von zehn Parametern die tonlose Glocke zu grösseren Verhaltensänderungen führte als die klingende Glocke. Daraus zu schliessen, dass Kühe es doof finden, eine Glocke zu tragen, die keinen Ton von sich gibt, ist zwar unseriös. Aber es drängt sich einem irgendwie auf …

Die Kühe

Die unterschiedliche Fresslust mit Glocke könnte allerdings auch noch andere Ursachen haben. Das Wetter zum Beispiel. An den Untersuchungstagen war es zwischen null und 23,5 Grad warm. Manchmal regnete es (bis 485 mm pro Quadratmeter), manchmal blieb es trocken. Auch das Futter auf der Standweide war mit Sicherheit von Juni bis November nicht immer gleich schmackhaft. Zudem änderte sich die Herdenzusammensetzung laufend, weil Kühe, die kalberten, aus der Herde genommen wurden und Galtkühe hinzukamen. Die Herdengrösse betrug vier bis zehn Tiere, davon mussten jeweils zwei bis fünf Kühe als Forschungsobjekte herhalten. Dabei kamen stets andere Kühe zum Einsatz, jede Kuh wurde nur ein einziges Mal mit klingender bzw. lautloser Glocke bestückt. All das wurde von den Forscherinnen jedoch nicht erfasst. Sie haben es auch verpasst, den Glockenton zu registrieren. Deshalb bleibt offen, bei welchem Klang nicht glockentragende Kühe besonders häufig die direkte Nähe zu glockentragenden Kühen suchen. Jedenfalls sieht es so aus, als fänden Kühe Glockenträgerinnen besonders anziehend. Sie suchten die direkte Nähe (weniger als 0,5 Meter) zu Glockenträgerinnen fast doppelt so häufig wie zu Kühen ohne Glocke.
Ohne diese Auswertung wurde erstens eine grosse Chance für die Glockenindustrie verschenkt und zweitens die Möglichkeit verspielt, die Anzahl Glocken pro Herde zu reduzieren: Wüsste man, welchen Ton Kühe besonders anziehend finden, müsste man nur ein paar Leitkühe mit dem entsprechenden Soundmobil bestücken, und die anderen Tiere würden folgen. Vielleicht sollte man die Studie wiederholen? Mit mehr Glocken, mehr Kühen und einer deutlich längeren Versuchsdauer. Daraus wird vorerst jedoch nichts. ETH-Mediensprecherin Claudia Naegeli teilt mit, dass «zur Studie, welche den Einfluss der Kuhglocken auf das Verhalten der Kühe untersucht hat, im Moment keine Folgestudie geplant ist».

Die Finanzierung

Das liegt vermutlich am Geld. Denn Studien kosten. Deshalb kann jemand, der Geld hat, Studien in Auftrag geben. Hans Vanja Palmers von der Stiftung Felsentor hat Geld. Der millionenschwere Erbe des Unterwäscheherstellers Palmers-Calida ist Zen-Priester, Tierschützer, Veganer, betreibt zwei Meditationszentren und ist «stolz darauf, einer der vielen Geburtshelfer für diese Studie zu sein.» Als Grund für sein Engagement nennt er Empathie: «Jedes Mal wenn ich Kühe sehe, welche in eng umfriedetem Gelände allesamt grosse und schwere Glocken am Hals haben, welche bei jeder Bewegung ganz nah beim Ohr einen lauten Ton machen, tun mir diese Tiere leid, und ich frage mich, ob sie nicht schon völlig taub sind.» Er sei ein grosser Freund wissenschaftlicher Objektivität (!), schreibt Palmers auf Anfrage, und dass ihn die zunehmend feineren Methoden der wissenschaftlichen Datenerhebung zur Bewertung des Tierwohls faszinieren. Wie viel Geld ihm die Studie wert war, verrät er nicht. Für eine wirklich aufschlussreiche Studie war es offenbar nicht genug.

Die vollständigen Studienergebnisse sind im Forschungsjournal PLOS veröffentlicht worden, allerdings auf Englisch: http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371%2Fjournal.pone.0131632

Dort findet man auch ein Soundfile zum Nachhören und ein Video zum Anschauen.

[notification type=“alert-info“ close=“false“ ]Dezibel – der Abstand machts
«Lautstärke» kann man nicht wirklich messen. Gemessen werden kann nur der Schalldruck, der dann in einen Schallpegel umgerechnet und in Dezibel angegeben wird. Diese Dezibel-Skala ist logarithmisch und reicht von 0 dB (Hörschwelle) bis ca. 130 dB (obere Hörgrenze Mensch). Generell werden tiefe Töne bei gleichem Schallpegel als weniger laut empfunden als hohe Töne. Der Schalldruck hängt sehr stark von der Entfernung ab. Die Aussage, dass eine Stadtnachtigall mit 90 Dezibel so laut zwitschert wie ein Presslufthammer, ist ohne Angabe der Entfernung wertlos.[/notification]