Die letzten Runden drehen – Hiver nomade

Der Film «Hiver nomade» zeigt die Schafhirten Pascal Eguisier und Carole Noblanc, wie sie im Winter 2010 mit 800 Schafen 400 Kilometer durch das Waadtland ziehen, entlang von Äckern und Siedlungen auf der Suche nach Futter. Ab 8. November im Kino. Text Giorgio Hösli | Bilder aus dem Film Der Verleiher von «Hiver nomade» hat […]


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Der Film «Hiver nomade» zeigt die Schafhirten Pascal Eguisier und Carole Noblanc, wie sie im Winter 2010 mit 800 Schafen 400 Kilometer durch das Waadtland ziehen, entlang von Äckern und Siedlungen auf der Suche nach Futter. Ab 8. November im Kino.

Text Giorgio Hösli | Bilder aus dem Film

Der Verleiher von «Hiver nomade» hat uns den Film für eine Besprechung vorab zugeschickt. Aber um einen Film zu schauen, braucht es ein Publikum. Dafür habe ich Rolf Beutler, selber dreissig Jahre mit Schafen im Winter unterwegs und im Sommer Schafhirte auf Preda Sovrana im Val Madris, plus die zwei langjährigen Schafhirten Peter Lüthi und Elisabeth Mock von der Alp Suretta eingeladen. Ein kritisches und erfahrenes Publikum also.
Noch ist es warm bei uns in der Stube und die Bäuche sind gefüllt mit Kartoffeln, Alpschwein und Wein. Film ab – und es beginnt zu schneien.

Die Esel bepacken

«Hiver nomade» zeigt die Schafhirten Pascal Eguisier und Carole Noblanc, wie sie im Winter 2010 mit 800 Schafen 400 Kilometer durch das Waadtland ziehen, entlang von Äckern und Siedlungen auf der Suche nach Futter.
Zu Beginn läuft manches schief. Das Bepacken der Esel ist eine logistische Herausforderung bezüglich Alles-dabei-haben ohne Druckstellen zu verursachen und das Gewicht schön auszubalancieren. Während der erfahrene Wanderschäfer Pascal alles weiss, ist für Novizin Carole alles neu. Hunde, Esel, Schafe und Hirten müssen sich erst aneinander gewöhnen, sich kennen lernen, um eine Herde bilden zu können. Nur wenige Auen, die mit Brot handzahm gemacht werden, verfügen über Wintererfahrung. Bei der Wanderschäferei geht es um das Mästen von Lämmern für die Metzg, nicht um das Durchfüttern von Muttertieren. Rolf, unsere Referenz für die Realitätsnähe des Filmes, meint: «Ja, genau so ist es. Zu Beginn ist alles etwas chaotisch.»

HIVER-NOMADE

Unter der Autobahnbrücke

«Ein Sauwetter», sagt der Besitzer der Schafe, der mit dem Toyota-Jeep vorbeikommt. «Allerdings», stimmt Pascal seinem Chef zu, unter der Autobahnbrücke etwas Schutz vor dem Schnee suchend, aber der Chef interessiert vor allem, ob die Schafe okay sind. «Schnee ist gar nicht so schlecht, das macht die Schafe ruhig, weil sie auf der Suche nach Futter den Schnee scharren müssen. Das Schlimmste ist Regen. Dann musst du mit den Schafen schneller ziehen, weil sie sonst die Weiden matschig trampeln», erklärt Rolf.
Wir hocken gemütlich auf dem Sofa während Pascal und Carole in angespannter Stimmung durchs Schneegestöber losziehen. Die Kamera bleibt nahe an den schweren Filzkleidern, die die Hirten in den Schnee hinab drücken und erst abends, beim Feuer am Waldrand, spürt man Erleichterung in den geröteten Gesichtern.

Ein Chacheli muss genügen

Jetzt könnte etwas Romantik aufkommen. Das einfache Leben am Lagerfeuer, dasselbe Chacheli für die Suppe und den Kaffee, draussen unterm Wetter bei der Herde schlafen – klingt doch toll. Der Film aber bleibt nüchtern, keine Kamerafahrten durch die Glut mit Schafwollknäuel im Hintergrund und sachte wippenden Sträuchern. Imposante Bilder von Landschaften, Natur, Nahaufnahmen von zerfurchten Gesichtern, wo sich das karge Leben abbildet, bleiben aus. «Zum Glück fehlen die beschönigenden Bilder», meinen Peter und Elisabeth. Carole und Pascal legen sich ins Zelt. Unter ihnen der weiche, nasse Schnee.

HIVER-NOMADE

Hirt und Affe

Immer nah ist die Zivilisation. Nicht nur in Hindernissen von Strassen, Zäunen, Bahntrasses, Rapsfeldern und Dörfern. Auch die Bevölkerung, zum Beispiel in Gestalt von Frau mit Hund, erfreut sich an der malerischen Kulisse mit der Schafherde, wird mitgerissen von der eigenen Vorstellung wie beruhigend und entspannend doch so ein Schäferleben sei, und lässt den Hund durch die Herde bellen. Für Rolf der wichtigste Grund, seinen Job als Wanderschäfer an den Nagel gehängt zu haben: «Du bist in einer Welt, wo du nicht dazugehörst, wie der Affe im Zoo – und sie haben das Recht, dich so anzuschauen.» Wir stoppen den Film und diskutieren über das Unverständnis und die Ärgernisse mit der Bevölkerung.
Auch nicht alle Bauern sehen die Schafe gerne auf ihren Weiden und wir fragen uns, wie ein Zwist zwischen Landwirt und Schäfer ausgegangen wäre, hätte die Kamera sie nicht beobachtet.
Man nimmt teil an den Flüchen von Pascal und Carole, an ihrer Anspannung eine Tradition zu leben, die in der modernen Gesellschaft keinen Platz mehr findet. Zwei Menschen, die mit den Schafen, mit ihren Eseln und Hunden eine Reise machen, die nicht in unsere Zeit passt, mit der Transhumanz eine Tradition pflegen, von der sie wissen, dass sie aussterben wird. Man stellt sich das Kinopublikum vor, wie es den Hirten auf ihren letzten Runden zuschaut, sich möglicherweise ihrem Anteil am Tod der Wanderschäfer bewusst – oder auch nicht.

Ein Lob zum Abschied

«Alles hat ein Ende», meint der Chef und lädt Ende Winter die letzten Lämmer ein. Erzählt, dass der Metzger mit den Schafen sehr zufrieden sei: «Da hüten Profis, Profis sind das», soll er gesagt haben. Pascal und Carole bleiben zurückgelassen in der Landschaft, schauen dem Transporter des Chefs nach. Die Tiere sind weg, die Arbeit getan, keiner weiss, was bleibt. Der Abspann beginnt.

Am Rande

«Hiver nomade» hat etliche Preise an Filmfestivals gewonnen, in deren Jurys wohl kaum einer sitzt, der zu Hause ein Schaf hat. Aber vielleicht davon träumt, eines zu haben. Dokumentarfilme mit «Mistgabelromantik» und «Gummistiefelgroove» sind eben im Trend. Alpabfahrten, Wildheueten, Folklorejodeln und Zaunpflockschlagen haben eine heimatliche Exotik erreicht, die man sich neben dem Urlaubsflug in die Karibik gerne antut. So ist das Leben in der Wohlstandsgesellschaft, voller Widersprüche und Ungereimtheiten.
Wie auch immer, wir klauben ein paar Schnapsgläser hervor, um unsere Füsse zu wärmen, klopfen den Schnee von der Kutte, geben dem Leitschaf Irmate ein Stückchen Brot, schütteln Carole und Pascal respektsvoll die Hände und malen fünf Sterne auf den Leinwandhimmel.

Hiver Nomade – ab dem 8. November im Kino:
http://www.hivernomade.ch