407 Gramm zusätzlich im Rucksack: Lebenswelt Alpen

«Für alle die in den Alpen unterwegs sind: Allgemein verständlich und doch wissenschaftlich korrekt vermittelt «Lebenswelt Alpen» Naturphänomene und Zusammenhänge, denen man in den Bergen auf Schritt und Tritt begegnet.» Mit diesem Werbetext auf dem Umschlag des neuen Buches zur Alpenwelt sind wohl auch die Älpler/-innen angesprochen, erwähnt werden sie aber im Inhalt nicht.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Buchblättern und Köcherfliege

Nehme ich ein Taschenbuch zum ersten Mal in die Hand, lege ich den Buchrücken in die rechte Handfläche und blättere mit dem linken Daumen die Seiten von hinten nach vorne. Beim Buch „Lebenswelt Alpen“ von Franziska Wüthrich, erschienen dieses Jahr im Sauerländer Verlag, unterstützt von den Naturfreunden und dem SAC, gelange ich auf diese Weise zuerst zum Stichwortverzeichnis. Auch wenn ich die Wörter Alpwirtschaft, Älpler, Kuh und Ziege vermisse, stosse ich auf die interessante Köcherfliege.

Von diesen lagen doch im hüttennahen Bachbett schwarze eineinhalbzentimeterlange Hüppen, umherrollend vom fliessenden Wasser. Köcherfliegen sagte mein Nachbarhirt, mehr wusste er auch nicht.

Jetzt habe ich ein Buch vor mir, das meine Unwissenheit bezüglich dieser Fliege ein Ende setzen sollte. Dies in handlicher Form, farbiger Aufmachung und kompetenter Schreibbesetzung: Franziska Wüthrich ist dipl. Umweltwissenschaftlerin, Jürg Meyer Doktor der Geologie und Markus Lüthi dipl. Kulturgeograph. Vorläufig blättere ich Richtung Köcherfliege und finde auf Seite 163 ein Bild «Fliege mit Köcher» und ein Bild «Fliege dem Köcher entkommen».

Der Köcher besteht aus Sandkörnern oder Pflanzenmaterial. Weiter erfahre ich, dass die Insektenlarven im Wasser leben und erst die geschlechtsreifen Tiere Flügel besitzen. Manche Frage bleibt: Wie kommen die Köcher zustande? Was für eine Lebensumgebung benötigen sie? Wie schnell werden die Köcher gebaut? Kommt die Köcherfliege nur auf einer Höhe von 2000 Meter vor?

Topmoderner Schmöker

Ich ahne, das Buch ist mehr Schmökerbuch als Sachbuch – ein Querlesebuch für schnelle Entdeckungen. Ein sogenannt topmodernes Buch: Viele Bilder – kurze Texte, beinahe alles wird angetönt, wenig geht in die Tiefe. Die farbig angelegte Navigationsstruktur durch die Themenblöcke ist der neuen Inhaltsverknüpfung von Websites und Multimedia-Produktionen entleiht. Die Texte sind populärwissenschaftlich verständlich und machen jeden zum kleinen Experten.

Ein weiteres Beispiel: auf der Seite 168 stosse ich auf den Alpensalamander.

Was tut der Salamander den ganzen Tag? Was frisst er? Warum sieht man ihn an schönen Tagen so selten, und bei Regenwetter kriecht er den Weggängern allerorts vor die Füssen? Warum braucht er kein Tigerfell wie sein Kumpan der Feuersalamander? Ehrlich, solche Fragen haben mich bei Hirtengängen schon beschäftigt.

Die verschrumpelte Alpenbanane

Das Buch Lebenswelt Alpen ist ebenso ehrlich. Es will nicht mehr als ein Entdeckungshelfer im Rucksack eines gelegentlichen Alpenbetreters sein. Auf 288 Seiten und 407 Gramm Gewicht ist daher reingepackt was kaum in einem ganzen Leben Platz hat:

Überblick zur Entstehung der Alpen mit Geologieunterricht und Steinserklärungen, dann die klimatischen Bedingungen mit kleinem Wetterratgeber, gefolgt von Steckbriefen der wichtigsten Pflanzen- und Tierarten, die zu den ökologischen Zusammenhängen und Besonderheiten der alpinen Kultur überleiten. Der Mensch in den Alpen wird auch nicht vergessen (der Älpler, die Älplerin jedoch schon, Herr Markus Lüthi, und wir gehen auf manches Buch zu, das im Titel auf drei Monate unseres Jahres verweist, in der Hoffnung, das damit nicht nur die verschrumpelte Bananenform auf der Europakarte gemeint ist: Die Alpen sind nicht nur eine Bergkette, sondern auch Aufenthaltsort von ca. 30'000 Alpleuten). Verbunden wird also der Alpenmensch – der andere – mit den Themen Wohnen, Arbeit, Kunst, Kultur, Tourismus und Naturschutz. Der aktuellen Alpendiskussion und –politik ist das letzte Kapitel gewidmet. Wer soviel unter die Schreibfinger nimmt kann nicht ausführlich werden.

Zu Hause bleiben!

Meinerseits weiss ich jetzt warum die Gletscher blau scheinen und wer Urheberin der an Grashalmen klebenden Speicheltropfen ist. Und für Mehrwissenwollende hats zum Schluss ein kleines feines Literaturverzeichnis. So habe ich mich bei näherer Lektüre mit dem Buch versöhnt und freue mich mit den Herausgebern über den SAB-Preis 2001, den das Buch wegen seiner Praxistauglichkeit wie auch der Vermittlung alpiner Lebenswelten erhalten hat und propagiere: kaufen, solange der Alplohn reicht.

Den Wanderfreudigen rate ich mehr zu Hause zu bleiben, denn wie aus dem Buch erfahren musste, machen „in der Schweiz 1,5 Millionen Wanderer durchschnittlich 13 Wanderungen im Jahr und zusätzlich machen 450'000 von Ihnen noch Wanderferien. Alle zusammen fahren sie 1'471'129'000 km pro Jahr, um Ihre Freizeitbeschäftigung ausüben zu können.“

Geben wir Maurice Chappaz – ebenfalls zitiert – das passende Wort dazu: «Die Massen der Städter haben, ich verstehe das, ein ehrliches Bedürfnis, mit der unverdorbenen Natur zu puffen, zu knutschen und zu lutschen; aber es sind ihrer zu viele, sie erschlagen alles, was vegetal und animal ist, ihre unausgesetzten Umarmungen schänden ein Land.»

Zum Buch ist ein Begleitband erhältlich, den man als Älpler und Älplerin getrost im Buchladen stehen lassen kann. „Alpen aktiv“ ist vornehmlich für Lehrkräfte und Gruppenleiter/-innen gedacht, die ihre Wanderfreunde mit Spielen und sinnlichen Erlebnissen unterhalten wollen, um deren Wahrnehmung in Bezug auf die Natur zu schärfen und den Respekt zu fördern (Hallo Natur ! Hier bin ich und weiss ich bin nur Gast bei dir...) Für Individualist/-innen also nur bedingt empfehlenswert.
 


Buchangaben
Franziska Wüthrich/Markus Lüthi/Jürg Meyer
Lebenswelt Alpen
sehen – kennen – verstehen
288 Seiten, Rucksackformat, broschiert
CHF 49.–
ISBN 3-7941-4702-2
Franziska Wüthrich/Maria Rohner/Jürg Meyer
Alpen aktiv
Mit Gruppen auf Entdeckungsreise
128 Seiten, gleiches Format, broschiert
CHF 19.–
ISBN 3-7941-4703-0
Duopack Lebenswelt Alpen und Alpen aktiv
CHF 64.-
ISBN 3-7941-4825-8