Als Rinderhirt und Geissenmelker in Graubünden

Als Kind wollte ich Zoodirektor werden. Weil ich Tiere liebte. Ich bin kein Zoodirektor geworden. Aber ich habe dennoch mit Tieren zu tun. Denn ich bin diesen Sommer Rinderhirt auf einer Alp in Graubünden.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    Bild: Kaspar SChuler


                        
                    

                    
                

Wohlgemerkt: Ich hüte keine Kühe, die gemolken werden, sondern Rinder, die keine Milch geben: Jungtiere vorm ersten Kalben. Zugegeben, ein paar trocken stehende Kühe sind auch dabei, und eine Kuh, die von ihrem Kalb gemolken wird. Dieses Kalb ist ein Bullenkalb, das einzige männliche unter den 69 Tieren. Neben Braunvieh habe ich je 10 Stück Grauvieh und Schwarzfleckvieh. Leider macht sich auch in der Schweiz mehr und mehr die barbarische und grausame Sitte breit, den Tieren die Hörner zu amputieren.
Die Alp mache ich zusammen mit drei anderen Menschen. Wir haben Geissen, die uns Milch geben, Hühner, die uns mit Eiern versorgen, und Schweine. Ausserdem einen Alpgarten mit Pflücksalat, Meerrettich, Estragon. Auch etwas Knoblauch gedeiht dort, obwohl die Gefahr, hier auf Vampire zu treffen, gering ist. Wir haben keinen Hund, während sie auf der Nachbaralp zwei Border Collies haben. Eine Katze könnten wir gebrauchen, da der Käsekeller und die Speisekammer bisweilen von Mäusen heimgesucht werden.
Die Schweine laufen frei herum. Der Unterschied zur heute leider üblichen Massentierhaltung könnte nicht grösser sein. Die Schweine strahlen eine Lebensfreude aus, wie sie in der Tierwelt Ihresgleichen sucht. Sie wühlen im Boden und benützen die um unsere Hütte grasenden Kühe der zwanzig Minuten entfernten Nachbaralp als Kratzbäume.
Um als Ausländer in der Schweiz zu arbeiten, brauche ich eine Arbeitsbewilligung. Die ist aber zumindest für Deutsche, die auf die Alp wollen, meist problemlos zu erlangen, sobald man einmal eine Alp gefunden hat, deren Meister einen haben will. Die Arbeitsbewilligung des Kantons anzufordern, ist Aufgabe des Alpmeisters. Ich habe einen Ausländerausweis von der Polizeibehörde des Kantons Graubünden, in dem der Aufenthaltszweck genannt ist: «Hirt».

Die Landschaft, in der sich unsere Alp befindet, ist grandios: ein kleines Hochtal mit Lärchenwäldchen, Sumpfgebieten und Bächen. Die Flora ist reich. Berghähnlein (Anemone narcissiflora), Silbermantel (Alchemilla alpina) und die verschiedensten Enziane grinsen uns auf Schritt und Tritt entgegen. Die nächste Strasse ist ausser Sicht- und Hörweite und nur in einem Fussmarsch von weit über einer Stunde – oder im Notfall mit dem Helikopter («Heli») – zu erreichen.
In Bayern und Österreich bezeichnet man ein nur im Sommer bestossenes Hochweideland mit zugehöriger Hütte als Alm, in der Schweiz dagegen heisst es Alp.
 

Bild: Gereon Janzing

 
Die Hütte ist aus Stein und Holz und trägt ein Blechdach. Das Wasser kommt von einer Quelle. Und wenn die Sonne scheint, können wir sogar warm duschen, da ein langer schwarzer Schlauch, der auf dem Dach ausgelegt ist, als Sonnenkollektor dient. Da die Sonne nicht immer scheint, lässt man manchmal einige Zeit ohne Duschen vergehen. Der Schweissgeruch mag unangenehm sein, ist aber weder ungesund noch unhygienisch. Und sollte mal jemand auf die Idee kommen, in ein Dorf oder eine Stadt zu gehen, so wird der Geruch ohnehin vom allgegenwärtigen Ziegenduft überdeckt.

Morgens um sechs, nach dem Ausmisten, beginnt das Melken. Während die Kühe auf der Nachbaralp mit der Maschine gemolken werden und daher die ganze Melkzeit ein Dieselgenerator rattert, melken wir die Geissen von Hand und haben somit eine himmlische Ruhe. Das Melken von Geissen ist eine beruhigende und entspannende Tätigkeit. Häufig, aber weniger als meine Kollegen arbeite auch ich, der Rinderhirt, als Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus, ach so, nein).
Nach dem Melken betätigt sich einer meiner Kollegen als Senn. Das heisst, er (oder sie) macht Käse. In einem 130 Liter-Bottich wird die Milch mit einem Gasbrenner auf die gewünschte Temperatur gebracht und eingelabt. Das Ergebnis ist ein Bündner Ziegenbergkäse. Im Käsekeller reift er unter täglicher Pflege, bis er verkauft wird - oder wir ihn am Ende der Alpzeit mit hinunternehmen, um ihn zu Hause weiter zu pflegen. Die anfallende Molke bekommen die Schweine, damit sie zum Ende der Alpzeit schön dick sind und ein Fleisch ergeben, das qualitativ kaum zu überbieten ist.
Bei der Milchwirtschaft ist strengste Hygiene angesagt. Saubere Hände und kurze Fingernägel sind selbstverständlich. Nach Parfüm zu stinken, ist beim Melken und beim Käsen indiskutabel. Beim Käsen darf man auch keine Wollkleidung tragen. Das gesamte Käsegeschirr muss mit kochendem Wasser oder Wasserdampf desinfiziert werden. So unhygienische Dinge wie Geschirrtücher haben in der Sennerei nichts verloren. Aber das Abkochen der Milch ist nicht erforderlich, wenn wir sauber arbeiten, zumal die Haltung mit viel Freilauf die Ausbreitung von Keimen hemmt.
So haben wir Milch, Rohmilchkäse, Eier und Salat aus Eigenproduktion. Auch Kefir machen wir. Oh, wie gut schmeckt Kefir aus Geissenmilch, wenn er den richtigen Reifegrad hat! Butter bekommen wir von der Nachbaralp. Alpenkräuter für Tee wachsen allerorts. Im Spätsommer gibt es auch Heidel-, Moor- und Preiselbeeren. Sind wir nicht unvergleichlich reich?

Nun, ein verwöhntes Wohlstandskind mag uns als «bescheiden» verleumden, weil es gerade in diesem Reichtum einiges vermisst. Einen Elektrizitätsanschluss zum Beispiel. Warum? Mit Gaslaternen und Kerzen geht es doch auch. Für das Licht im Käsekeller haben wir ein Solaraggregat. Mein Zaungerät ist auch solar betrieben und damit pflegeleicht. Der Kühlraum funktioniert mit kaltem Wasser, das wir hier in den Bergen zur Genüge zur Verfügung haben.
Ein alltägliches Erlebnis: Bei Kerzenlicht Tee trinken, in die heisse Tasse blasen und dann durch die beschlagene Brille die regenbogenfarbenen Kerzen sehen – wer das noch nie erlebt hat, dem fehlt wahrlich etwas! Was für ein Glück, dass ich Brillenträger bin!
Als Bedürfnisanstalt dient ein Plumpsklo mit grandiosem Ausblick auf die Berglandschaft. Besonders bei Vollmond hat dieses Klo eine einmalige Atmosphäre. Oder nachts bei Gewitter: Es ist stockdunkel, und kurzzeitig taucht ein Blitz die Landschaft in blaues Licht. Das Gefühl, das einen in dem Moment befällt, ist beim besten Willen nicht mit Worten zu beschreiben.

Freilich können wir hier oben nicht alle Verbrauchsgüter selber produzieren. Da wir keine Bienen haben, müssen wir die Kerzen kaufen. Auch das Gas muss käuflich erworben werden, da eine Biogasanlage viel zu teuer ist. Und stärkereiche Lebensmittel wie Getreide und Kartoffeln gedeihen hier auf fast 2000 m Meereshöhe nicht, so müssen wir auch diese zukaufen. Brot backen wir gelegentlich selber, meistens aber bestellen wir es bei einer Bäckerei. Auch die anderen Verbrauchsgüter bestellen wir, und zwar mit dem Handy der Nachbaralp. Von unserer Alp aus geht das nicht, da sie im Funkschatten liegt. Einmal in der Woche bringt der Lastenaufzug dann die Dinge auf die Nachbaralp, von wo wir sie mit einem Geländetraktor abholen können. Ein Maultier haben wir leider nicht.
Butter, ich habe es schon angedeutet, bekommen wir von den Nachbarn, die ihn aus der Milch ihrer Kühe machen. Warum machen wir selber keinen Butter? Geissenmilch rahmt kaum auf, sodass man sie praktisch nur mit einer Zentrifuge entrahmen könnte. Eine Zentrifuge haben wir nicht. Ausserdem würde sich das Buttern für uns kaum lohnen, da unser Milchertrag vergleichsweise gering ist und der Arbeitsaufwand beim Buttern nicht proportional zur Rahmmenge abnimmt. Nun, jedenfalls haben wir sehr guten Butter zur Verfügung, das ist ja das wichtigste. Übrigens: Wie im Südwesten Deutschlands, so heisst es auch in der Schweiz nicht etwa nach norddeutscher Manier die Butter, sondern richtig der Butter.
80 Geissen haben wir zu melken. Daneben haben wir etwa 10 Jungziegen und zwei Böcke. Die Milchgeissen geben durchschnittlich einen Liter pro Melkzeit. Wie auf einer Kuhalp, so haben auch wir auf der Ziegenalp zwei Melkzeiten. Dies wird sich erst kurz vor Ende des Sommers ändern, wenn die Milchleistung zurückgeht und wir die Geissen nur noch abends melken. Ein Ziegenlamm oder - wie man in der Schweiz sagt - ein Gitzi bekommt zu Anfang noch Milch gefüttert. Ein anderes Gitzi saugt bei seiner Mutter, die daher nicht gemolken wird und für uns schlicht den Namen Mama trägt.

Etwa die Hälfte der Ziegen sind Gämsfarbene Bergziegen. Da unsere Böcke auch zu dieser Rasse gehören, bestossen die Bauern, die mit anderen Ziegen Rassenzucht betreiben, andere Alpen. Dennoch haben wir auch Appenzeller Ziegen, Bündner Strahlenziegen, Toggenburger Ziegen, Saanenziegen, Pfauenziegen und natürlich verschiedene Kreuzungsprodukte.

Aus menschlicher Sicht könnte man sagen: Was für ein Leben für die Böcke mit so vielen Geissen … Zwei Geissen haben sich klugerweise von der Gunst der Böcke unabhängig gemacht: Sie vergnügen sich als lesbisches Liebespaar. Wenn ich ein Bock wäre, würde ich mich ohnehin nur für die Strahlenziege Resi interessieren.
 

Bild: Gereon Janzing

 
Einige Ziegen sind hornlos. Manche Rassen wie die Appenzeller werden vorwiegend hornlos gezüchtet. Die Hornlosigkeit wird dominant vererbt; reinrassig hornlose Ziegen neigen angeblich zu Fruchtbarkeitsstörungen.

Bisweilen stellen wir fest, dass eine Ziege einen erhöhten Zellgehalt in der Milch hat. Das kann ein Hinweis auf eine Euterentzündung sein. Die Milch ist dann nicht sonderlich geeignet für unseren Rohmilchkäse. Aber abgekocht ist sie brauchbar, beispielsweise für Kefir oder Ziger.

Ziger wird gewonnen, indem man die Milch zum Kochen bringt und dann ein Säuerungsmittel (Zitronensaft oder Essig) hinzuschüttet. Die Milch gerinnt. Die Molke wird abgeseiht. Der zurückbleibende Frischkäse ist der Ziger, auch unter dem italienischen Namen Ricotta bekannt.

Nein, wir sind hier nicht im italienischen Sprachgebiet, das es ja im Süden von Graubünden auch gibt. Hier wird Rätoromanisch (oder, wie die Schweizer sagen: Romanisch) gesprochen. Genauer gesagt: Bündnerromanisch. Das ist neben Friaulisch und Dolomitenladinisch eine der drei rätoromanischen Sprachen. Das Bündnerromanische in Graubünden besteht aus fünf Grossdialekten, deren jeder seine eigene Schriftsprache hat: Surselvisch, Sutselvisch, Surmiranisch, Ober- und Unterengadinisch. Darüber hinaus wurde vor ein paar Jahren das Rumantsch Grischun als übergeordnete Schriftsprache erschaffen, die aber nirgends gesprochen wird. Wir befinden uns im Bündner Oberland, der Surselva. Hier spricht man also Surselvisch.

Bisher verstehe ich kaum etwas vom Surselvischen. bien di heisst «guten Morgen» oder «guten Tag», buna sera ist der Gruss für den Nachmittag und den Abend, viva heisst «prost», neu heisst «komm», womit ich die Rinder rufen kann, in der Mehrzahl vegni oder umgangssprachlich kurz gni. Der Ziger heisst hier tschagrun. Das wichtigste Wort für uns ist natürlich caschiel caura «Geisskäse». Zum Vergleich: Mittelbündnerisch (d. h. Sutselvisch und surmiranisch) heisst es caschiel tgora, engadinisch chaschöl chevra. tg und engadinisch ch sind etwa wie tj zu sprechen, sch ist in diesem Fall stimmhaft wie g im deutschen Wort Blamage.
Daneben wird Walserdeutsch gesprochen, da germanische Siedler aus dem Wallis hierher gekommen sind. Das Walserdeutsche gehört zum Höchstalemannischen. Alemannisch ist bekanntlich die grosse Dialektgruppe, die den Südwesten des deutschen Sprachgebietes einschliesslich fast der gesamten Deutschschweiz umfasst. Auffällig ist, dass man hier Schwy (oder diphthongisiert Schwie) für «Schwein» sagt, während sonst im Alemannischen das Wort Sou oder Suu üblich ist.
Trotz der Bezeichnung «Deutsch» können die Schweizer ihre Herkunft auch dann nicht verbergen, wenn sie versuchen, tatsächlich Deutsch statt Schweizerisch zu sprechen, was sie mit uns, die wir aus Deutschland kommen, des Öfteren tun. Als ob wir das Schweizerdeutsche nicht verstünden!

In diesem Gebiet gibt es die Regel, dass jede Alp zwei Alpmeister hat: einen deutschsprachigen und einen romanischsprachigen.
Die Alpmeister sind die Vorsitzenden der Alpgenossenschaft, der in unserem Fall die Nachbaralp und unsere Alp angehören. Sie sind unsere Ansprechpartner unter den Bauern. Meine Rinder stammen von elf Bauern. Vier davon sind «Unterländer», das heisst, sie leben und wirtschaften im Zürcher Oberland. Nein, das ist kein Widerspruch, dass die Unterländer im «Oberland» leben - ausser für diejenigen, die noch nie von Relativität gehört haben; denn was von Zürich aus oben ist, kann von Graubünden aus unten sein.
Die Ziegenhalter sind bei uns nicht in einer Genossenschaft zusammengeschlossen. Dabei wäre es sinnvoll, wenn sie sich mit den Rinderhaltern mehr koordinieren würden. Glücklicherweise gibt es Überschneidungen zwischen Rinder- und Ziegenhaltern. In einigen Fällen haben die Frauen Ziegen und ihre Männer Rinder und Kühe.
In der Ernährungsökologie ergänzen sich Rinder und Ziegen hervorragend. Die Ziegen fressen das, was die Rinder stehen lassen, was also aus Sicht der Rinderhalter Weideunkräuter sind: Gelben Enzian (Gentiana lutea), Zwergwacholder (Juniperus sibirica), Rostrote Alpenrosen (Rhododendron ferrugineum) und sogar Alpenkratzdisteln (Cirsium spinosissimum). Nur den ziemlich giftigen Blauen Eisenhut (Aconitum napellus) verschmähen auch die Ziegen.

Vier Wochen lebe ich schwerpunktmässig als Einsiedler in einer kleinen, schnuckeligen Hütte, da meine Rinder ein Stück von der Alphütte entfernt sind. Alle zwei bis drei Tage gehe ich hinab zu meinen Kollegen, da ich ja etwas zu essen brauche. Ab und zu kommt jemand zu mir hoch. Und häufig kommen die Ziegen und bringen mir Milch. Damit ich die Milch lagern kann, bastle ich einen Kühlschrank. Wie das geht? Ich zimmere eine Kiste, die gerade so gross ist, dass die Milchkanne hineinpasst. Und diese Kiste befestige ich mit Draht im Brunnen. In diesem Kühlschrank wird die Milch innert einer halben Stunde fast eiskalt.
Ich kriege auch Besuch von einer Aue (wie die Schweizer ein weibliches Schaf nennen) mit zwei Lämmern. Sie fühlen sich offensichtlich auf meiner Weide wohl. Doch sie können natürlich nicht hier bleiben. Daher treibe ich sie eines Tages, kurz bevor ich die Weide mit meinen Rindern verlasse, über Schuttfelder zurück zur Herde. Dabei erstatte ich der zugehörigen Alp einen Besuch ab, doch leider ist gerade kein Mensch anzutreffen.
Mein Einsiedlerleben besteht aus der täglichen Kontrolle der Rinder und ansonsten Tätigkeiten zur Selbstversorgung: Holz hacken, Feuer zum Kochen anmachen, Kräuter für Tee sammeln, Heuschrecken sammeln und braten. Daneben habe ich endlich einmal Zeit zum Briefe-schreiben. Das Einsiedlerleben vertrage ich psychisch ohne Probleme. Wohl deshalb, weil ich meine Aufgabe innerhalb eines sozialen Kontextes habe. Das einzige, was mich drückt, ist das Gewissen, wenn ich sehe, was unten alles getan werden muss, während ich hier oben ein vergleichsweise lockeres Leben habe.

Ansonsten funktioniert die Gruppendynamik sehr gut. Das ist keineswegs selbstverständlich, auf manchen Alpen gibt es einige Probleme, bisweilen sogar so fatale, dass das Alpleben nur noch zur Qual wird. Normalerweise habe ich ernsthafte Probleme zwar ausschliesslich mit sehr verwöhnten Luxuskindern, die an mich entsprechende Erwartungen haben. Aber wenn man so eng aufeinander lebt und zeitweise viel zu tun hat, könnten ja schon Kleinigkeiten das Miteinander unerträglich machen. Nun, abgesehen von kurzzeitigen Anfällen von Missmut gibt es keine Schwierigkeiten. Kein Chef, wir haben alle gleiche Rechte, die Anarchie funktioniert wunderbar. Was sollte auch funktionieren, wenn schon die Anarchie versagen würde?

Im Vorfeld habe ich gedacht, es wird bestimmt Zeiten geben, in denen ich bereue, nach hier gekommen zu sein. Nein, nicht einen Moment bereue ich es! Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich lieber wäre als hier. Nein, der Bahnwärter im «Petit Prince» hatte nicht recht, als er behauptete, die Menschen seien nie zufrieden, wo sie sind.

Die Rückkehr aus dieser Wunderwelt in die geistige und räumliche Enge der Stadt wird bestimmt nicht leicht. Ich muss mit einem gravierenden, aber überwindbaren Kulturschock rechnen. Und die Menschen, die nie ein Wunder erleben durften, werden mich nicht mehr verstehen, da meine Welt eine andere geworden ist. Nun ja, immerhin verstehen mich meine Kollegen, die dasselbe Problem haben werden, und auch einige der Menschen, die mich hier besuchen.

Nun, ich darf nicht verschweigen, dass bei der Arbeit nicht immer alles so läuft, wie wir es gerne hätten. Manchmal laufen Tiere davon, und wir müssen sie suchen. Manchmal ist ein Tier krank. So muss ich einem Rind mit Panaritium (Klauenentzündung) ein Antibiotikum einflössen, was ich nur mit jemandes Hilfe schaffe. Eine Ziege mit heftigem Durchfall kuriere ich mit Schwarz- und Grüntee, und nach zwei Tagen ist sie wieder völlig gesund. Eine andere Ziege leidet unter einer von Zittern und Hinken begleiteten Schwäche, deren Ursache wir auch mit Hilfe der Fachliteratur nicht zu identifizieren wissen. Es ist zunächst nicht klar, ob wir sie am Leben erhalten können. Doch durch die Fütterung würziger Alpenkräuter, über die sie viel wilder herfällt als übers Heu, lassen sich ihre Lebenskräfte wieder erwecken, und nach und nach genest sie.
Vermutlich habe ich die schönste Alp Graubündens kennen gelernt. Falls ich nächstes Jahr wieder auf die Alp gehe, wird wohl kaum eine andere Alp in Frage kommen, nachdem ich hier so verwöhnt worden bin. Falls ich wieder Rinderhirt bin, werde ich das Einsiedlerleben nicht mehr in der Form mitmachen. Denn ich möchte meinen Kollegen doch mehr zur Hand gehen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass ich mich mit ihnen gut verstehe. Wie schade, dass nicht alle meiner Kollegen nächstes Jahr wieder mitgehen wollen!
Als Kind wollte ich Zoodirektor werden. Wäre ich das geworden, hätte ich die Befehlsgewalt über Massen von unglücklichen Tieren in engen Käfigen gehabt. Als Alphirt betreue ich Rinder (Bos primigenius f. taurus), darunter die schönen Graurinder, auf grossen Weiden und laufe mit ihnen. Ziegen (Capra aegagrus f. hircus), darunter die wunderschönen Strahlenziegen, Hühner (Gallus gallus f. domesticus) und Schweine (Sus scrofa f. domesticus) laufen tagsüber frei herum. Ich sehe ausserdem viele wilde Tiere in ihrem ökologisch angestammten Umfeld: Steinwild (Capra ibex), Steinadler (Aquila heliaëtos), Schneehühner (Lagopus mutus), häufig Gamswild (Rupicapra rupicapra) und ständig Murmeltiere (Marmota marmota) und natürlich viele, viele Insekten, von denen ich nur die allerwenigsten mit Namen ansprechen kann, so wie den Apollofalter (Parnassius apollo). Ich bin viel reicher, als es ein Zoodirektor je sein kann.


Ich bin kein Zoodirektor geworden. Weil ich Tiere liebe.
 


Gereon Janzing ist

  1. freischaffender Geowissenschaftler mit Schwerpunkten Ethnobotanik, Agrarethnologie und Ethnolinguistik und

  2. freischaffender humoristischer Dichter.

    Mehr über ihn und seine Taten erfährt man auf auf seiner Webpage