Eine Lawine für eine Nacht

Wer nicht genügend Schnee und Berge vor der Haustüre hat kauft das neue Buch von Urs Augstburger, geht heim, reisst die Türklingel aus, wirft das Handy und andere Telefone aus dem Fenster, kocht sich zwei Liter heissen Tee, fängt an zu lesen und bald hat er die Stube voll schroffer Bergler, aufrechter Felswände, abstürzender Seelenlandschaften, schwellender Liebesglut, vergrabener Geschichten und ganz viel Schnee. Die grosse Lawine droht zehn Centimeter über den letzten fünfzig Seiten.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Schattwand trägt den Untertitel «Ein Bergdrama», was wundern macht, aber den Roman nur ungenau trifft. Mehr ist es ein Bergdorfkrimi, dessen Plot Augstburger als moderner Mensch in einem Flowchart-Programm entworfen haben mag. Vieles erinnert an die Kriminalbuchstruktur Agatha Christies: man nehme ein kleines Dorf inmitten hoher Berge, wo eine begrenzte Anzahl wortkarger Bergler hausen, versetze einen unbescholtenen Städter auf geheimnisvollen Wegen in diese Gesellschaft, integriere in dessen Haus ein Versteck mit geheimnisvollen Inhalt, versperre dem naiven Städter – der natürlich keine Ahnung vom Leben in den Bergen und von den Intrigen der Bergler hat – durch eine Lawine den Heimweg, sodass ihm keine Wahl bleibt als das Geheimnis verstrickter Liebes- und Todesgeschichten zu lösen und sich während dieser Zeit nach der schönen Frau im Nebenzimmer zu sehnen.

Augstburger setzt das Christie-Rezept so um: Severin Somm, ein gewesener Tierpräparator kommt bei argem Schneefall auf den Kufen eines Schaukelstuhls im Bergdorf Gspona an, um sein geerbtes Haus zu schauen, in dem bereits die schöne und unnahbare Lucretia wohnt. In einer zugemauerten Kammer findet er ein Zeichnungsbuch. Die Bilder darin stammen von Lisbeth Comet und behandeln hauptsächlich ihre Liebesgeschichte mit dem Dorfzuwanderer Fortunat Wiler. Severin wird zum ambitionierten Detektiv. Der Absturz einer von Fortunat initiierten Seilbahnkabine vor fünfzig Jahren, mit Lisbeth und Fortunat zu Tode kam, scheint kein Unfall gewesen zu sein. Severin taucht allmählich in die unheilvolle Geschichte des Dorfes ein. Die Schneeflocken verdichten sich zu einer drohenden Gefahr für alle Beteiligten, aber Severin schaufelt wacker ans Tageslicht, was verborgen sein soll. Die Verhinderung einer neuen Zeit in Gspona war willentlich verhindert worden – das wird Severin immer klarer. Seine jetzige Geschichte mit Lucretia verwebt sich mehr und mehr mit jener von Lisbeth und Fortunat und es wird immer unklarer, wer für seine Anwesenheit in Gspona verantwortlich ist und warum.

All dies schildert Augstburger in schnell geschnittenen Bildern, die einem filmisch durch den Kopf und Bauch rattern. Wenn Severin mit klammen Fingern zur Wolfsscharte raufsteigt, halten wir mit ebensolchen das Buch. Wenn sich Lukretia und Severin in der Schmitte lieben wie damals Lisbeth und Fortunat, vergessen wir mit ihnen zusammen die Zeit, vergessen sogar froh darüber zu sein, dass wir uns in kluger Voraussicht ungestörter Lesensfreuden der Telefone entledigt haben.

So spannend kann das richtige Leben gar nicht sein, das muss auch den Autor beschäftigt haben. Er macht uns glauben, dass ihm ein wahrhafter Severin Somm die Geschichte zur Veröffentlichung anvertraut hat. Wer da skeptisch ist, kann unter www.schriftsteller.net/galerie einige Bilder aus dem Zeichnungsbuch Lisbeths schauen. Hartnäckig Ungläubige werden einwenden, das sei ein wirksamer Trick, um uns auf die Werbeseiten Augstburgers zu locken und seine zwei bereits geschriebenen Bücher zu kaufen. Andere Zweifler werden herausfinden, dass es Gspona auf der Landkarte nicht gibt und im Telefonbuch kein Severin Somm zu finden ist, zudem das Dorfgeschlecht „Capun“ eher in Bern zu Hause ist, als an der italienischen Grenze.

Macht alles nichts, denn schliesslich hat man das ultimative Weihnachtsgeschenk gefunden.
 


Buchangaben
Urs Augstburger
Schattwand
Ein Bergdrama
238 Seiten, 2 Bilder, gebunden
39 Franken
bilgerverlag, Zürich 2001
ISBN 3.908010.54.3
http://www.bilgerverlag.ch/