Mit Kamera und Notizblock in den Urner Bergen

Wenn einer mit der Kamera und einem Bündel Fotofilme in die Urner Berge zieht, sind Bilder atemberaubender Sonnenaufgänge, rassiger Kühe, scharfer Felszacken, blühender Enziane, Alpenrosen und Silberdisteln zu erwarten. José Amrein hingegen bringt einen Rucksack voller Alpleute mit ins Tal.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Amrein nennt sein Buch eine Liebeserklärung an die Menschen in den Urner Bergen. Es ist eine rücksichtsvolle Liebeserklärung geworden. Die schwarzweiss Fotografien zeigen die Urner ÄlplerInnen bei der Arbeit und beim Erzählen von Geschichten, denen Amrein aufmerksam zuhört. Dabei wird offensichtlich, dass das Erzählen eine wichtige Funktion erfüllt, Erlebtes auf der Alp zu verarbeiten. Was einem nicht geheuer vorkommt, wird mit der Welt der Sagen erklärt. Kommt hier unverhofft eine Erzähltradition zum Vorschein, die wir sonst im Orient vermuten?
Der Autor hat bei der Veröffentlichung des Buches einen ganzen Reigen Veranstaltungen zu Alpthemen organisiert. An der Vernissage in Flüelen erzählte der Älpler Kari Marty aus Altdorf Anekdoten und Erlebtes aus seiner Alpzeit. Er brachte den ZuhörerInnen eine Welt zu Ohren, die chronologisch etwas entrückt erschien, als hätten die Geschichten in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort stattgefunden. Das Publikum vergass wohl eine halbe Stunde lang, dass fünfzig Meter von ihnen entfernt auf der Axenstrasse Hunderte von Autos Richtung Süden und Norden rasten. Autos in denen das Girl Britney Spears oder der Cowboy George W. Bush aus den Boxen ihre Welt erklärten. Autos, deren LenkerInnen möglicherweise versuchten eine unnötige Sache in verkrüppelter Sprache von 135 Zeichen auf den Punkt zu bringen.
Insofern ist das Buch auch eine Hommage an die Erzählkunst der Alpleute, die sich lange bevor Radio und Fernseher in den Alphütten installiert wurden, glänzend unterhalten haben.

Das Besondere am Buch ist dessen menschliche Atmosphäre. Hier spricht nicht der studierte Autor über die Objekte seiner ethnologischen Forschung in den Urner Bergen, hier reden die Alpleute selber. Ihre Sprache ist einfach und voll versteckter Lebensphilosophie. Die Landschaft der Alp als Ereignisort für Menschen, Tiere, Pflanzen, Wetter und Übersinnlichem – das prägt. Die wahrhaftigen Erlebnisse werden verknüpft mit den Wahrnehmungen aus der „jenseitigen“ Welt. So erzählt uns Migi Bissig aus dem Isenthal vom alten Aschwanden:

„Der vorherige Besitzer hier hiess Aschwanden. Sein Vater war nicht über alle Zweifel erhaben. So stritt er vor Gericht lang bestandene Rechte ab. Auch musste ein Knecht eine Kuh ganz alleine berappen, obwohl er für deren Unfall bei Schnee und Eis eigentlich gar nicht verantwortlich war. Und es passierten noch ein paar weitere nicht ganz durchschaubare Sachen. So hat sich einiges angehäuft im Leben dieses Aschwanden.
(...)
Der Aschwanden ist schon lange gestorben. Aber er ist immer noch hier. Ich habe ihn einmal gesehen, am helllichten Tag, mitten im Sommer. Er hatte ein schneeweisses Gesicht, trug ein schwarzes Gilet und ein weisses Hemd. Urplötzlich war er wieder verschwunden. (...)
Es war im Jahre 1973. Wir hatten die Tiere in den Stall getrieben. Plötzlich sprangen zwei Rinder in einem wahnsinnigen Tempo davon. Edi und Gusti versuchten die Tiere einzuholen und zu beruhigen. Umsonst, die Rinder sprangen wie Gämsböcke. Sie sprangen über Geröllhalden, Schneefelder und durch Waldstücke; auch über sonst kaum bezwingbare Zäune.
Mein Bruder verstand das alles nicht. Ich sagte nur: Da steckt etwas anderes dahinter.
Erst nach vielen Stunden kamen die Rinder wieder in die Nähe des Stalles. Eines der beiden blieb wie angewurzelt stehen. Es rührte sich die ganze Nacht nicht von der Stelle. Wir hatten schon viele unruhige Tiere, aber so etwas hatte ich noch nie erlebt. Dass Rinder so springen! Über solch hohe Zäune! Unglaublich! Bestimmt hat sie einer getrieben; eine arme Seele; vielleicht der Aschwanden.“

José Amrein ist bereits seit seiner Kindheit in den Urner Bergen unterwegs. Er kennt die Wege zu den Hütten und zu den ÄlplerInnen. Auf seinen Bildern kommen die altgebliebenen Hütten und Sennereien zu Ehren, ein Umstand, der ihm auch Kritik einbringt. Das riecht doch sehr nach Aufrechterhaltung des Mythos von Schönheit und Unverdorbenheit des älplerischen Lebens.
Ich will ihn hier in Schutz nehmen. Bücher sind immer auch Dokumente der jeweiligen Zeit. Vieles was Amrein in seinem Buch portraitiert wird in zehn Jahren verschwunden sein. Kaum noch einer, der Wildheu machen wird, kaum noch eine, die den Käse von Hand aus dem Kessi zieht, kaum noch eine Alphütte, die diesen Namen verdient. Aber wenigstens ein Fotobuch, anhand dessen ich ersehen kann, wie wir als Gesellschaft mit eigener Kultur umgehen.

Im Anhang sind Gespräche mit einem Psychologen, einem Heiler, einem Historiker und einem Pfarrer aufgezeichnet, die sich um Alpsagen und Arme-Seelen-Geschichten drehen. Natürlich sind sich auch die Herren der Wissenschaften nicht ganz einig mit der Erklärung des Unerklärbaren.
In abschliessenden Bildern und Texten versucht Amrein einen Vergleich zwischen urnerischen ÄlplerInnen mit Bergbauern und Bergbäuerinnen aus Ecuador, Indonesien und Nordindien. Für die zu Wort kommenden Urner sind die Unterschiede nicht gross, schliesslich sind ja alles Bergler. Diese Aussagen bringen mir dann doch ein Runzeln auf die Stirn, wird doch in der Schweiz die Alpwirtschaft in hohem Masse subventioniert. Zudem sind die Regierungssysteme der angesprochenen Länder kaum mit unserem vergleichbar. Es ist nicht der Berg allein, der prägt.

Das Buch ist in der ersten Auflage bereits ausverkauft und die zweite im Druck. Wer vor Weihnachten noch ein Exemplar erstehen will, lässt es sich sofort beim Verlag oder Autor sicherstellen. Ich empfehle es allen Alpleuten, Bürolisten, Managern im Urlaub und dem Weihnachtsmann.

 


Buchangaben
José Amrein
Vom Leben der Urner Älpler
Aussergewöhnliches und Alltägliches
gebunden, 200 Seiten, viele s/w Fotos, CHF 49.–
Verlag Urner Wochenblatt, Altdorf 2001
ISBN 3-906130-10-X
 

Bilder aus dem Buch