Zukunftsmodell: Halbtagsalp

Vor 2,5 Jahren hatte ich einen Zeckenstich in meinem Garten nahe Berlins. Unmittelbar danach erkrankte ich an einer, in meinem Fall hartnäckigen bakteriellen Infektion, der Neuroborreliose. Eine Alp zu machen, habe ich mir aber nicht nehmen lassen.
von Almut Witt


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Für drei Wochen erfüllte ich mir im Sommer 2004 einen Wunsch, den Traum von den schneebedeckten Bergen. Tatsächlich träumte ich des öfteren von schneebedeckten Bergen und hatte das Gefühl, dort muss ich unbedingt hinreisen. Vielleicht wollte ich mir mit dieser Reise in die Tessiner Alpen auch ganz einfach beweisen, dass ich nach der sehr langen zermürbenden Krankenzeit wieder körperlich fähig war, mit dem Zug eine lange Strecke zu reisen. Durch die Krankheitssymptome, die oft in Schüben auftraten, hatte ich jegliches Zutrauen in meine eigenen körperlichen Fähigkeiten verloren. Nicht zuletzt war es wohl auch der Versuch, sich trotz der noch vorhandenen körperlichen Einschränkungen, einem Wagnis zu stellen, so nach dem Motto: „Ich schaffe das wieder!”

Ich fand letztendlich eine Ziegenalp in den Tessiner Alpen, drei Wochen zum sogenannten Schnuppern. Viel ging mir vor Antritt „meines Experimentes” durch den Kopf, nicht zuletzt durch die Tatsache hervorgerufen, dass ich z.B. nachdem ich im Garten eine Stunde Laub geharkt hatte, mal wieder dauerhaft für zwei Tage ohne jegliche körperliche Kraft auf meiner Couch lag. Es kamen mir sehr grosse Zweifel bezüglich meines Vorhabens. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte abgesagt. Während eines nochmaligen Telefonates mit dem Bergbauern wurde ich ermuntert, mich auf den Weg zu machen. Ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen, wir würden dies vor Ort schon klären.

Frohes Mutes rauschte ich mit dem ICE ganz beruhigt in die Tessiner Alpen. Bei der Einreise in die Schweiz zückte ich meinen Schwerbehindertennausweis – fälschlicherweise. Keine Sorge, ich bemerkte den Irrtum und durfte auch als Borreliosekranke, natürlich ordnungsgemäss mit deutschem Pass, in die Schweiz einreisen.

Endlich konnte ich „meine geträumten schneebedeckten Berge” tatsächlich in Augenschein nehmen – kurz hinter Luzern. Als ich mich auf den 2,5 stündigen Weg hinauf zur Alp machte, schoss eine unglaubliche Vielzahl von Glückshormonen durch meinen Körper. Freudentränen traten plötzlich in meine Augen, ich hatte es tatsächlich geschafft, hier in den Bergen anzukommen – trotz meiner körperlichen Einschränkungen.

Obwohl der Aufstieg in Höhe von 1500 m recht mühevoll war, hingegen der Tessiner Regen sich ganz mühelos durch meine Kleidung kämpfte, zog ich jubelnd in meine zukünftige Bleibe. Viele neugierige Gedanken jagten durch meinen Kopf. Zwar hatten meine Grosseltern in Mecklenburg (absolut flaches Land) einen Bauernhof gehabt, aber eine Alp hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.

Ich kam dort „oben” an und blieb. Während meiner Zeit auf der Alp wurde Oskar, ein alter Hirtenhund, zu meinem besten Freund. Wenn ich die Ziegen aus den Bergen holen sollte, setzte er seine schwerfälligen arthritischen Hundebeine in Bewegung – trotz der Schmerzmittel, die er täglich einnahm. Ich glaube, er spürte ganz deutlich, dass ich ebenfalls täglich mit meinen körperlichen Kräften haushalten musste. Wir schauten uns dann beide an und beschlossen einstimmig: “Invaliden müssen einfach zusammenhalten”. Verwunderlich war wirklich, dass er bei keinem anderen Älpler körperlich so aktiv wurde.

Nicht vergessen werde ich, wenn ich morgens ungewaschen mit meinen wunderschön rotlackierten Fussnägeln in die Gummistiefel schlüpfte. Danach kraxelte ich mit Hilfe des Lichtes meiner futuristischen Stirnlampe durch die Dunkelheit der Berglandschaft hinauf zum Ziegenstall. Die wohlige Wärme des Ziegenstalles empfing mich. Zwischen tausenden von Ziegenköddeln und Unmengen von Urinpfützen platzierte ich meinen wackligen Melkhocker. Mit dem Stirnlampenlicht versuchte ich während des Melkens meine ganze Konzentration auf das Hinterteil der Ziege zu richten. Fatal wäre, wenn es dem zu melkenden Objekt eingefallen wäre, plötzlich seine „kugelige Notdurft“ zu verrichten. Prompt wäre sie in der frisch gezapften Milch gelandet.

Meine weitere Konzentration richtete ich im Stall auf meine neue Spezialisierung. Was war meine Aufgabe? Nichts lag näher, durch meine Erkrankung sicherlich beeinflusst, mich als Zeckenentfernungsspezialistin an diversen Ziegeneutern zu versuchen.

Oftmals waren die Tessiner Alpzecken schwer von ihren Opfern zu trennen, da konnte meine Professionalität als Borreliosekranke auch nicht viel ausrichten. Abends fiel ich meistens todmüde in mein Bett. Das Schreiben der versprochenen Ansichtskarten an die Lieben daheim musste das kleine Plüschtier „Schmuddel“ übernehmen. Ich konnte hierfür keine Kraft aufbringen. Zum Glück erledigte er diese Aufgabe hervorragend.

Meine körperliche eingeschränkte Kraft liess mich oft nicht voll einsatzfähig sein. Tatsächlich überlegte ich in der ersten Woche abzureisen. Heute bin ich sehr froh, dies nicht getan zu haben. Nicht zuletzt der Worte eines Mitälplers wegen, der mich ermunterte: „Man könnte viel von mir lernen, von meiner Geduld, Gelassenheit und auch meinem Mut.“ Spätestens bei diesem ausgesprochenen Satz wusste ich, dass es sich lohnte zu bleiben.

Allerdings wäre meine Traumalp eine sogenannte Halbtagsalp. Die ÄlplerInnen könnten nur den halben Tag arbeiten, der Rest der Zeit wäre der Musse vorbehalten. Man könnte in der Hängematte vor seinem Rustiko die wunderbare Landschaft geniessen, Zeitung lesen, Kaffee trinken und einfach schöne Dinge denken. Sicherlich wäre dies nicht nur für Borreliosekranke die ideale Alp.


Die Autorin
Almut Witt, 36 Jahre alt, lebt in Berlin. Bevor sie erkrankte, arbeitete sie als Sozialpädagogin im Gesundheitsberatungszentrum einer Krankenkasse. Vor 2,5 Jahren hatte sie einen Zeckenstich in ihrem Garten nahe Berlins. Unmittelbar danach erkrankte sie an einer, in ihrem Fall hartnäckigen bakteriellen Infektion, der Neuroborreliose. Hier werden Bakterien namens Borrelien durch Zecken in den menschlichen Körper übertragen.
Bei der Autorin traten eine Vielzahl von Beschwerden auf: immer wiederkehrende Fieberschübe, Gelenkbeschwerden, Herzbeschwerden, fortlaufende Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche, Geräuschempfindlichkeit, Tinnitus, eine kontinuierliche Müdigkeit und langandauernde Erschöpfungszustände. Nach einem Jahr Antibiotikatherapie und der momentan klassisch homöopathischen Behandlung haben sich viele Krankheitssymptome langsam gebessert. Allerdings kann Almut Witt ihrem Job im Gesundheitsberatungszentrum auf Grund der Erkrankung bis zum heutigen Tag nicht nachkommen.